IPG-Kolumne: „Inseln der Kooperation“

20.06.2016

In meiner aktuellen Kolumne für das IPG-Journal[1], die am 20. Juni erschienen ist, zeige ich Möglichkeiten auf, wie der Westen aus der gegenwärtigen Konfrontation mit Russland ausbrechen und zu einer neuen Kooperation gelangen kann:

Basis für eine neue Beziehung des Westens mit Russland?

In diesen Tagen gibt es zahlreiche Gedenkveranstaltungen aus Anlass des 75. Jahrestags des Überfalls Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion. 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger der UdSSR verloren ihr Leben – die meisten davon Russen, aber auch Ukrainer, Weißrussen und Angehörige der zahlreichen weiteren Völker der Sowjetunion. Erst mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 hatte das Grauen ein Ende. Europa war endlich vom Faschismus befreit – nicht zuletzt auch dank des aufopferungsvollen Kampfes der Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee.

Deutschland und die meisten anderen europäischen Staaten blicken seitdem auf mehr als sieben Jahrzehnte des Friedens zurück. Jahrhunderte alte Feindschaften konnten überwunden werden und entwickelten sich zu engen, freundschaftlichen Beziehungen. Dennoch sind wir von einer umfassenden Friedensordnung, die allen Staaten Europas das Recht auf territoriale Integrität und die freie Wahl ihrer außenpolitischen Orientierung garantiert, noch weit entfernt.

An manchen Orten scheint die Entwicklung wieder in die entgegengesetzte Richtung zu laufen. Die „Friedensdividende“, die mit dem Fall des Eisernen Vorhangs vor über 25 Jahren erwartet wurde, ist so nie eingetreten. Zunächst gab es in den neunziger Jahren die blutigen Kriege im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens, und seit gut zwei Jahren müssen wir im Osten Europas wieder Tote beklagen. Fast 10 000 Menschen haben bei den Auseinandersetzungen um die Ostukraine bereits ihr Leben verloren.

Für uns war von Beginn an klar, dass eine Lösung dieses Konflikts nur auf dem Verhandlungsweg zu erreichen ist. Waffenlieferungen, wie sie vor allem jenseits des Atlantiks in Erwägung gezogen wurden, oder gar ein eigenes militärisches Engagement standen und stehen für uns nicht zur Debatte. Die deutsche Diplomatie hat in den vergangenen Jahren durch ihr Beharren auf immer wieder neuen Verhandlungen und Gesprächen maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Auseinandersetzungen um die Ostukraine nicht zu einem Flächenbrand entwickelt haben. Der nächste Schritt – eine dauerhafte Konfliktlösung – ist deutlich schwieriger, verlangt er doch von allen Konfliktparteien Zugeständnisse, zu denen sie bis zum heutigen Tage nicht bereit sind.

Auch wenn mit dem Minsker Abkommen vom 12. Februar 2015 erstmals eine tragfähige Grundlage für eine politische Lösung gefunden zu sein schien, kommt die Umsetzung dieser Vereinbarung weiterhin nur schleppend voran. Der vereinbarte Waffenstillstand wird immer wieder gebrochen; nach wie vor sterben Menschen auf beiden Seiten der Konfliktlinie.

Die Auseinandersetzung um die Ostukraine steht exemplarisch für das stark getrübte Verhältnis des Westens zu Russland. Dabei wird die Debatte von sehr unterschiedlichen Narrativen bestimmt, die einer Verständigung im Wege stehen. Für die einen ist Russland der ewige Aggressor, der seinen imperialen Ambitionen freien Lauf lässt und sich nach der Annexion der Krim am liebsten noch weitere Teile der Ostukraine einverleiben würde. Auch in den baltischen Staaten gibt es Befürchtungen, Moskau könne eines Tages auf die Idee kommen, die dortige russische Minderheit für seine Zwecke zu instrumentalisieren, um damit die noch vergleichsweise jungen Demokratien zu destabilisieren. Ein partnerschaftliches Verhältnis mit Russland scheint aus Perspektive dieser Länder in weite Ferne gerückt.

Aus offizieller russischer Perspektive verhält es sich genau anders herum. Dort betrachtet man sich als Opfer einer fortdauernden Expansionspolitik des Westens. Der Westen nutzte zunächst die Schwächephase Russlands in den neunziger Jahren aus, um dann mithilfe der NATO und der EU, letztlich aber von Washington gesteuert, in den Nachbarstaaten eine „Farbrevolution“ nach der anderen zu initiieren, mit dem Ziel, Russland zu schwächen. Dieses Einkreisungsnarrativ ist nicht neu, blendet dabei aber die berechtigten Interessen der Nachbarländer völlig aus.

Auch die zu erwartenden Beschlüsse des bevorstehenden NATO-Gipfels in Warschau am 8. und 9. Juli sind aus russischer Perspektive ein weiterer Beleg für die Expansionspolitik des Westens. Gegenmaßnahmen werden angekündigt, verbunden mit der Drohung, dass sich die NATO-Beschlüsse negativ auf die gegenseitigen Beziehungen auswirken werden.

Auch wenn wir der russischen Argumentation nicht auf den Leim gehen sollten, ist und bleibt es zentrale Aufgabe sozialdemokratischer Politik, immer wieder nach Möglichkeiten zu suchen, aus der gegenwärtigen Konfrontationsrhetorik auszubrechen. Deshalb benötigen wir neue Antworten auf die heutigen Herausforderungen und können nicht einfach mit einer „Entspannungspolitik 2.0“ reagieren.

Gelegentlich wird von einigen die Zeit des Kalten Kriegs regelrecht idealisiert. Doch wer sich heute wieder am „Lagerfeuer der Entspannungspolitik“ wärmen möchte, übersieht, dass die Wirklichkeit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs über viele Jahre sehr viel ungemütlicher war als es heute erscheint. Damals standen sich zwei bis an die Zähne bewaffnete Blöcke gegenüber, die sich mit der gegenseitigen nuklearen Vernichtung bedrohten. Diesen Zustand sollte man sich nicht wieder herbeisehnen.

Vielmehr gilt es, intensiv nach Lösungen zu suchen. Zunächst einmal muss es darum gehen, Themen und Felder zu identifizieren, die beide Seiten miteinander verbinden können. Der Hamburger Friedens- und Konfliktforscher Wolfgang Zellner spricht von „Inseln der Kooperation“, die einen möglichen Ansatz bilden könnten, um aus der gegenwärtigen Blockade herauszukommen. Je mehr solcher „Inseln“ es gebe, umso leichter ließen sie sich später miteinander vernetzen.

Gemeinsame Interessen gibt es durchaus, beispielsweise im Nahen und Mittleren Osten: Beide Seiten wissen, dass die zerfallende Staatlichkeit unter anderem in Syrien und in Libyen auf Dauer zu einer Gefahr für die eigene Ordnung wird. Vor rund einem Jahr ist es gemeinsam mit Russland endlich gelungen, nach über zehnjährigem Ringen ein Abkommen zur Beendigung des iranischen Nuklearprogramms zu vereinbaren. Und erst in der vergangenen Woche wurde im UN-Sicherheitsrat einstimmig eine Resolution verabschiedet, die den Waffenschmuggel vor der libyschen Küste unterbinden soll. Dies ist umso bemerkenswerter, als insbesondere der Sturz von Muammar al-Gaddafi bis heute von Russland als ein Missbrauch der 2011 beschlossenen UN-Resolution 1973 betrachtet wird.

Diese Beispiele zeigen, dass mit Russland durchaus konstruktiv zusammengearbeitet werden kann, wenn es gelingt, zuvor gemeinsame Interessen zu identifizieren. Es ist sicher nicht überraschend, dass dies umso einfacher ist, je weiter der Konfliktherd von der eigenen Haustür entfernt ist. Oder anders herum formuliert: Der Konflikt in der Ostukraine ist ungleich schwerer zu lösen, weil Russland seine ureigenen Interessen noch unmittelbarer bedroht sieht. Dennoch sollte es auch hier ein genuin russisches Interesse geben, diesen Konfliktherd zu löschen – und nicht nur einzufrieren.

Noch sind dabei große Hürden zu überwinden. Die Verabschiedung eines ukrainischen Wahlgesetzes und die Durchführung von Wahlen in den besetzten Gebieten stellen eine immense Herausforderung für die Konfliktparteien dar. Anderseits kann Russland nicht an einem „failed state“ vor seiner Haustür gelegen sein. Und auch die Ukraine muss sich bewegen und anerkennen, dass sie auf Dauer nicht darum herumkommen wird, Zugeständnisse zu machen, die den Hardlinern in Kiew nicht passen werden.

In der Praxis – wenn auch weitgehend unbemerkt von der öffentlichen Wahrnehmung – gibt es mitunter kleine Fortschritte im Rahmen der im Minsker Abkommen vereinbarten Arbeitsgruppen, die den Alltag der Menschen in den betroffenen Regionen ein wenig erleichtern. Für uns bleibt die schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe, möglichst viele der bereits zitierten „Kooperationsinseln“ zu identifizieren. Wer sich die Mühe macht, einen genauen Blick auf den Zustand dieser Welt zu werfen, wird feststellen, dass der Vorrat an gemeinsamen Interessen mit Russland größer ist als das, was uns trennt. Jetzt kommt es nur noch darauf an, diese Einsicht auch in praktische Politik umzusetzen – in Washington, Brüssel, Berlin und in Moskau.

http://www.ipg-journal.de/kolumne/artikel/inseln-der-kooperation-1476/[2]

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